Herbert Masslau

BSG zur Vergleichsraumbildung

(11. Juli 2019)

 

 

Vorbemerkung

In der Nachbemerkung meines Artikels „KdU-Chaos Vergleichsraum“ schrieb ich:

Als das BSG das Konstrukt Vergleichsraum schuf, ohne es zu definieren, eröffnete es nicht nur den unteren sozialgerichtlichen Instanzen die Möglichkeit willkürlich – auch mithilfe von Gutachten und (sic!) einer falsch verstandenen „Methodenvielfalt“ – Vergleichsräume festzulegen, sondern es schuf damit insbesondere ein verfassungsrechtliches Problem.

Dieses Problem ist nun mit den im Volltext veröffentlichten Entscheidungen BSG, Urteile vom 30. Januar 2019, Az.: B 14 AS 10/18 R, B 14 AS 24/18 R, B 14 AS 41/18 R, B 14 AS 11/18 R und B 14 AS 12/18 R nicht wirklich gelöst worden, auch wenn dem BSG eine weitere juristische Spezifizierung nicht abgesprochen werden kann.

Diese Spezifizierung eröffnet nämlich neue Wege der Willkür, indem sie alte Wege der Willkür verschließt; letztendlich tauscht sie die Willkürlichkeit sozialgerichtlicher Entscheidungen [1] gegen die Willkürlichkeit sozialbehördlicher Entscheidungen ein.

Es wird abzuwarten sein, was die einzelnen Grundsicherungsträger (SGB II wie SGB XII) daraus machen. Aber schon heute dürfte klar sein, daß das Thema KdU die Sozialgerichte auch in Zukunft gewichtig beschäftigen wird. Klar ist nur, daß KdU-Gutachten, wie sie jahrelang von „Analyse&Konzepte“ gefertigt wurden, so nicht mehr möglich sind. Und die klarste Regelung in diesem Zusammenhang dürfte sein, daß die Sozialgerichte nicht befugt sind, selbst Vergleichsräume anstelle der Grundsicherungsträger zu bilden.

Nachfolgend wird um der Klarheit willen nicht auf jeden Aspekt der genannten BSG-Entscheidungen eingegangen, insbesondere nicht auf Einzelfallaspekte, sondern ich beschränke mich auf jene relevanten Aspekte, welche allen Verfahren gemeinsam sind.

 

Die Vergleichsraumbildung

„Der Vergleichsraum ist der Raum, für den ein grundsätzlich einheitlicher abstrakter Angemessenheitswert zu ermitteln ist (...), innerhalb dessen einer leistungsberechtigten Person ein Umzug zur Kostensenkung grundsätzlich zumutbar ist (...) und ein nicht erforderlicher Umzug nach § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II zu einer Deckelung der Aufwendungen auf die bisherigen führt (...). Der Vergleichsraum ist ein ausgehend vom Wohnort der leistungsberechtigten Person bestimmter ausreichend großer Raum der Wohnbebauung, der aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und insbesondere verkehrstechnischer Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bildet (...).“ [2] [3] [4] [5] [6]

Der Vergleichsraum ist also in erster Linie jenes Gebiet, indem die gleiche „Referenzmiete“ als Produkt aus Personenanzahl bezogener Wohnungsgröße und „angemessenem“ Quadratmeterpreis (bruttokalt) gilt. Auch die Deckelung der KdU bei einem nicht bewilligten Umzug ist an denselben Vergleichsraum gebunden; ansonsten gilt die freie Wohnsitzwahl (Art. 11 GG) [7].

Neben diesen Bestimmungen haben die Entscheidungen vom 30. Januar 2019 nur eine einzige wirkliche Klarheit geschaffen:

„Ist die Ermittlung dieses abstrakten Angemessenheitswerts rechtlich zu beanstanden, ist dem Jobcenter Gelegenheit zu geben, diese Beanstandungen durch Stellungnahmen, ggf nach weiteren eigenen Ermittlungen, auszuräumen (...).“ [8] [9] [10] [11] [12]

Auf gar keinen Fall dürfen die Sozialgerichte anstelle der Grundsicherungsbehörden Vergleichsräume bilden:

„Gelingt es dem Jobcenter nicht, die Beanstandungen des Gerichts auszuräumen, ist das Gericht zur Herstellung der Spruchreife der Sache (...) nicht befugt, seinerseits eine eigene Vergleichsraumfestlegung vorzunehmen (...) oder ein schlüssiges Konzept - ggf mit Hilfe von Sachverständigen - zu erstellen. Beide Entscheidungen korrespondieren miteinander, denn die Bildung des Vergleichsraums kann nicht von der Erstellung des Konzepts getrennt werden, einschließlich der anzuwendenden Methode, und sind dem Jobcenter vorbehalten (vgl zu den Auswirkungen dieser Entscheidungen auf den örtlichen Wohnungsmarkt nur § 22a Abs 3 Satz 2 SGB II).“ [13] [14] [15] [16] [17]

Die Folge ist aber nicht unbedingt die Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten. Hier bleibt es bei der Deckelung durch die Tabellenwerte § 12 WoGG:

„Vielmehr kann das Gericht zur Herstellung der Spruchreife, wenn ein qualifizierter Mietspiegel vorhanden ist, auf diesen zurückgreifen; andernfalls sind mangels eines in rechtlich zulässiger Weise bestimmten Angemessenheitswerts die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft dem Bedarf für die Unterkunft zugrunde zu legen, begrenzt durch die Werte nach dem WoGG plus Zuschlag von 10 % (...). Dadurch soll den Gegebenheiten des örtlichen Wohnungsmarkts zumindest ansatzweise gemäß gesetzgeberischer Entscheidungen - wenn auch für einen anderen Personenkreis - durch eine ‚Angemessenheitsobergrenze’ Rechnung getragen werden, die die Finanzierung extrem hoher und per se unangemessener Mieten verhindert (...).“ [18] [19] [20] [21] [22]

Damit ist allerdings auch klar, daß die Hilfebedürftigen von den Sozialgerichten nicht jahrelang im Regen stehen gelassen werden dürfen, sondern ihnen im Eilrechtsverfahren zumindest die KdU gemäß Tabellenwerte § 12 WoGG plus 10%-Sicherheitsaufschlag vorläufig zu bewilligen sind.

Was völlig ungeklärt bleibt bei dieser BSG-Rechtsprechung ist die Antwort auf die Frage, wie Vergleichsräume gebildet werden dürfen oder gar müssen. Schelm, wer denkt, das BSG habe sich mit seinen Entscheidungen vom 30. Januar 2019 quasi selbst eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erstellen wollen!

Aus eigener prozessualer Erfahrung mit der Optionskommune Landkreis Göttingen weiß ich zu genau, daß dieses zur Kostensenkung gerne Kommunen zusammen gelegt hätte, die einfach nicht zusammen gehören. Als Argumentationshilfe wurde das Regionale Raumordnungsprogramm (RROP), welches der Landkreis im Rahmen des Landesraumordnungsprogrammes (LROP) selbst erstellt, herangezogen. Diese Politik wurde schließlich durch das LSG Niedersachsen-Bremen und in dessen Gefolge von verschiedenen Kammern des SG Hildesheim einhellig gestoppt.

Wie aber ist diese Politik der Grundsicherungsträger zu bewerten, wenn diese nach den BSG-Urteilen vom 30. Januar 2019 die einzig Befugten sind, Vergleichsräume festzulegen?

 

Grenzen der Vergleichsraumbildung

Zunächst ist bemerkenswert, daß das BSG in seinen Entscheidungen vom 30. Januar 2019 nicht wie die Grundsicherungsträger von „Methodenfreiheit“, sondern von „Methodenvielfalt“ spricht [23] [24] [25] [26] [27]. Damit wird zumindest klargestellt seitens des höchsten Sozialgerichtes, daß es keine Beliebigkeit der Vergleichsraumbildung geben darf, wie ihn der Begriff der „Methodenfreiheit“ nicht nur suggeriert.

Nachfolgend wird kurz dargestellt, welche Einschränkungen das BSG bei der Vergleichsraumbildung neben dem bisherigen wenig aussagenden Allgemeinplatz – „Der Vergleichsraum ist ein ausgehend vom Wohnort der leistungsberechtigten Person bestimmter ausreichend großer Raum der Wohnbebauung, der aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und insbesondere verkehrstechnischer Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bildet (...).“ [2] [3] [4] [5] [6] – sieht, um der wohl geahnten Willkürlichkeit der Grundsicherungsträger zumindest die Spitze zu brechen.

Da wäre, „das der Senat ausgehend von der bisherigen Rechtsprechung unter Einbeziehung der Rechtsentwicklung wie folgt zusammenfasst und konkretisiert (...): (1) Bestimmung der (abstrakt) angemessenen Wohnungsgröße für die leistungsberechtigte(n) Person(en), (2) Bestimmung des angemessenen Wohnungsstandards, (3) Ermittlung der aufzuwendenden Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept, (4) Einbeziehung der angemessenen kalten Betriebskosten.“ [28] [29] [30] [31] [32]

Der Knackpunkt ist dabei der Punkt Nr. 2, die Bestimmung des „angemessenen“ Wohnungsstandards. Aus der großen Anzahl mir bekannter sozialgerichtlicher Entscheidungen ist ersichtlich, daß die überwiegende Mehrheit der Grundsicherungsträger sowie die von ihnen beauftragten KdU-Gutachten-Firmen behaupten, über den gesamten Wohnungsmarkt ermittelt zu haben. Weiterhin findet aber keine positive Definition des Wohnungsstandards statt, sondern lediglich der Ausschluß bestimmter Wohnungen, wie auf der einen Seite der Ausschluß von Luxus-Wohnungen und auf der anderen Seite von Wohnungen untersten Wohnstandards wie Wohnungen mit Ofen, ohne Bad und WC [33]. Ferner werden dann noch Wohnungen ausgeschlossen, die möbliert vermietet werden, Heimwohnungen, Ferienwohnungen, Wohnungen zu Freundschaftsmieten [34].

Aber es findet keine positive Definition dessen statt, was Wohnungen einfachen, mittleren oder gehobenen Standards sind, obwohl behauptet wird, über den gesamten Wohnungsmarkt ermittelt zu haben.

Dies ist aber besonders wichtig, da die Kappungsgrenze über die Höhe der „angemessenen“ KdU entscheidet und diese umso geringer ausfallen, je höher der Anteil von Wohnungen unteren Wohnungsstandards am Gesamtbestand der Untersuchung ist [35].

 

Ausblick

Was folgt nun überhaupt aus den BSG-Entscheidungen vom 30. Januar 2019?

Für die sozialgerichtliche Rechtsprechung ist nur eines klar: Aufgrund des BSG-Verbots, gerichtlich Vergleichsräume festzulegen, folgt, daß den Sozialgerichten unterer Instanzen nur die Möglichkeit bleibt, über die gerichtliche Überprüfung der „abstrakten Angemessenheit“ des „schlüssigen Konzepts“ auch über die richtige Wahl des Vergleichsraumes bzw. der Vergleichsräume mitzubefinden, denn, „[e]s ist gerichtlich voll überprüfbar - ... -, ob die Ermittlung der abstrakt angemessenen Nettokaltmiete, insbesondere die Festlegung des Vergleichsraums und die Erstellung eines schlüssigen Konzepts im Rahmen der Methodenvielfalt zutreffend erfolgt ist. Die volle gerichtliche Überprüfung des Angemessenheitswerts und des Verfahrens zu seiner Ermittlung schließt nicht aus, dass bei dieser Kontrolle der Verwaltung deren in der Methodenvielfalt zum Ausdruck kommenden Eigenverantwortung Rechnung getragen und die gerichtliche Kontrolle als eine nachvollziehende Kontrolle ausgestaltet wird (...).“ [36] [37] [38] [39] [40].

Das heißt, nur wenn die gerichtliche Überprüfung der „abstrakten Angemessenheit“ ergibt, daß ein Vergleichsraum vom Grundsicherungsträger in seinem „schlüssigen Konzept“ nicht richtig bestimmt sein kann, ergibt sich die Möglichkeit, das „schlüssige Konzept“ zu kippen. Zuerst muß dabei aber dem Grundsicherungsträger die Möglichkeit der Nachbesserung gegeben werden. Erst wenn diese nicht möglich ist, erfolgt die urteilsmäßige Festlegung der KdU aufgrund gerichtlich festgestellten totalen Ermittlungsausfalls anhand der Tabellenwerte § 12 WoGG plus 10%-Sicherheitsaufschlag.

Insofern ist von Bedeutung, daß die Festlegung der Tabellenwerte § 12 WoGG nicht mehr realitätsfremd über Jahre erfolgt, ohne jährliche Angleichung zumindest mit der allgemeinen Inflationsrate, wie 2001, 2009 und 2016, wobei am Beispiel Göttingen (Stadt) die WoGG-Werte nur im ersten Jahr 2016 angemessen waren. Vielmehr sollen ab 2020 die Tabellenwerte § 12 WoGG alle zwei Jahre dynamisiert werden anhand der Entwicklung der Mieten und Einkommen sowie teilweise der Verbraucherpreise (allgemeine Inflationsrate) [41]

Dies dürfte ab 2020 zumindest in den Groß- und Universitätsstädten die Mietpreisentwicklung halbwegs abbilden. Daß nun auch das Wohngeld analog der für Mietspiegel geltenden Regelungen (§ 558c Abs. 3, § 558d Abs. 2 BGB) zukünftig regelmäßig erhöht werden soll, ist mehr als überflüssig – nach 15 Jahren „Hartz IV“. Und nur so läßt sich der weiterhin lediglich 10%-ige Sicherheitsaufschlag noch rechtfertigen.

 

Fußnoten

  [1] Siehe die Darstellung verschiedener LSG-Entscheidungen im Artikel „KdU-Chaos Vergleichsraum“ [http://www.herbertmasslau.de/kdu-vergleichsraum.html]

  [2] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B 14 AS 10/18 R, Rdnr. 24

  [3] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B 14 AS 24/18 R, Rdnr. 22

  [4] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B 14 AS 41/18 R, Rdnr. 21

  [5] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B 14 AS 11/18 R, Rdnr. 21

  [6] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B 14 AS 12/18 R, Rdnr. 24

  [7] BSG, Urteil vom 1. Juni 2010, Az.: B 4 AS 60/09 R, Rdnr. 18

  [8] = [2], Rdnr. 30

  [9] = [3], Rdnr. 28

[10] = [4], Rdnr. 27

[11] = [5], Rdnr. 27

[12] = [6], Rdnr. 30

[13] = [2], Rdnr. 31

[14] = [3], Rdnr. 29

[15] = [4], Rdnr. 28

[16] = [5], Rdnr. 28

[17] = [6], Rdnr. 31

[18] = [2], Rdnr. 32

[19] = [3], Rdnr. 30

[20] = [4], Rdnr. 29

[21] = [5], Rdnr. 29

[22] = [6], Rdnr. 32

[23] = [2], Rdnr. 26, 27

[24] = [3], Rdnr. 24, 25

[25] = [4], Rdnr. 23, 24

[26] = [5], Rdnr. 23, 24

[27] = [6], Rdnr. 26, 27

[28] = [2], Rdnr. 22

[29] = [3], Rdnr. 20

[30] = [4], Rdnr. 19

[31] = [5], Rdnr. 19

[32] = [6], Rdnr. 22

[33] in Anlehnung an BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, Az.: B 14 AS 2/10 R, Rdnr. 24

[34] in Anlehnung an BSG, Urteil vom 22. September 2009, Az.: B 4 AS 18/09 R, Rdnr. 22

[35] siehe stellvertretend LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 2. April 2019, Az.: L 6 AS 467/17, Rdnr. 35: „Die Beurteilung des SG, dass in der Stichprobe preisgünstiger Wohnraum, also das untere Segment überrepräsentiert ist, hat sich im Berufungsverfahren bestätigt.“

[36] = [2], Rdnr. 28

[37] = [3], Rdnr. 26

[38] = [4], Rdnr. 25

[39] = [5], Rdnr. 25

[40] = [6], Rdnr. 28

[41] BTDrs. 19/10816, Seiten 2, 9/10 (§ 43 WoGG)

 

 

 

URL: http://www.HerbertMasslau.de/bsg-vergleichsraum.html

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