Herbert Masslau

SGG-Änderungsgesetz 2008 – Gesetz gegen „Hartz IV“-Betroffene

(19. April 2008)

 

 

Aufgrund einer Verwechselung ist mir bei der Besprechung des § 92 SGG ein Fehler unterlaufen, auf den mich dankenswerter Weise eine Leserin hingewiesen hat und den ich korrigiert habe (21. April 2008).

 

Das am 1. April 2008 in Kraft getretene SGG-Änderungsgesetz tritt nicht auf als Nr. 8 der SGG-Änderungsgesetze, obwohl es viele Änderungen enthält, sondern als Artikelgesetz (dort Artikel 1) unter der gemeinsamen Überschrift „Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes“ [BGBl. I, 2008, Nr. 11, S. 444-448].  

Diese Gesetzesänderung enthält einige Wesentlichkeiten, die zwar nicht im Rahmen der „Hartz IV“-Gesetzgebung erfolgen, wie seinerzeit z.B. die Zuordnung der Sozialhilfe zur Sozialgerichtsbarkeit (7. SGG-ÄndG), aber eindeutig durch „Hartz IV“ bedingt sind.

Diese Änderungen haben die Qualität der nachsorgenden Verschlechterung der Lage der „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger vor Gericht. Zu dieser im Rahmen von „Hartz IV“ üblich gewordenen Art der nachsorgenden Verschlechterung siehe auch die Artikel über Gesetze gegen Gerichtsentscheidungen zur „Sachbezugsverordnung“ und zur "eheähnlichen Gemeinschaft".

 

 

Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich die aktuelle Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aus Sicht der „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger so darstellen: quasi nichts zu Gunsten der betroffenen Klägerinnen und Kläger, viel Unwesentliches, aber zwei wesentliche Verschlechterungen, nämlich die Erhöhung des Streitwertes und die Einschränkungen bei der Berufung.

 

 

Die SGG-Änderungen

An dieser Stelle sollen nicht die redaktionellen Änderungen genannt werden, auch nicht jene Änderungen, die sich auf andere wie Krankenkassen, Kassenärzte etc. beziehen (z.B. § 29 Abs. 2 bis 4 SGG oder § 57a SGG).  

 

Die positive Änderung

An positiven Änderungen aus Sicht der Betroffenen gibt es nur eine: Der bisherige § 174 SGG wurde aufgehoben.

§ 174 SGG konnte als die unsinnigste Einrichtung des SGG gelten. Denn hatte ein SG eine Klage abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen bzw. war diese nicht zuzulassen oder im Eilverfahren negativ entschieden, so war die Beschwerde im Eilverfahren oder die Nichtzulassungsbeschwerde im Klageverfahren zunächst an dasselbe Gericht zu richten, welches ja gerade erst durch seine ablehnende Entscheidung kundgetan hatte, daß es das Begehren ablehnte. Warum sollte ein Gericht, eine Kammer, ein Richter binnen weniger Wochen die eigene Entscheidung aufheben? Gehässige Richterinnen und Richter taten dies gerade deswegen nicht, und die vielen anderen arbeiteten ja wohl so ordentlich, daß sie eine solche Kehrtwende nicht nötig hatten.

Somit ist durch die Streichung des § 174 SGG eine Verfahrensverkürzung erreicht worden.

 

Die negativen Änderungen

● § 92 SGG, welcher bestimmt, was bei einer Klageerhebung beachtet werden muß, erhält eine wesentliche Änderung zu Lasten der Klägerinnen und Kläger.

Bisher reichte es in diesem Zusammenhang aus, den angefochtenen Verwaltungsakt oder Widerspruchsbescheid zu bezeichnen. Mit der Neuregelung wird verlangt, daß „die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid […] in Urschrift oder in Abschrift beigefügt werden“.

Dies bedeutet für die Betroffenen eine Härte, weil gerade Arbeitslose jetzt gezwungen werden, entweder ihre Beweisdokumente mit der Gefahr des Verschwindens aus der Hand zu geben oder aber gegen eine entsprechende Gebühr sich von der Leistungsbehörde eine Zweitausfertigung machen zu lassen [Korrektur:] oder Geld für Kopien auszugeben. Diese Vorschrift kann gar nicht anders interpretiert werden denn als Versuch, gerade „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfängern den Klageweg mit der Absicht zu erschweren, daß eventuell von einer Klage abgelassen wird [Korrektur: Halbsatz gestrichen].

§ 96 Abs. 1 SGG. Nach der alten Fassung wurde der beklagte Verwaltungsakt (VA), wenn er nach Klageerhebung durch einen neuen VA ersetzt wurde, automatisch Gegenstand des Klageverfahrens. Nach der neuen Fassung soll dies nur noch dann der Fall sein, wenn dieser den alten ersetzende VA „nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist“.

Konkret kann sich der Autor hierunter nur den Fall vorstellen, daß bereits in Kenntnis des Widerspruchs und der Klageargumentation die Leistungsbehörde den ursprünglichen Bescheid abändert, ohne den Widerspruchsbescheid zu erlassen. Der oder die Betroffene müßte dann in einem weiteren (und/oder) neuen Verfahren (auch) diesen Bescheid beklagen und in den geänderten Punkten die alte Klage für erledigt erklären. Was das außer mehr Arbeit für die Gerichte und Spekulation darauf bedeutet, daß der neue Bescheid in Unwissenheit Rechtskraft erlangt, da er den alten Bescheid ersetzt, der, weil ersetzt, nicht mehr beklagbar ist, erschließt sich dem Autor ansonsten nicht.

§ 144 SGG (Berufungsbeschränkung) legt die Grenzen fest, innerhalb derer die Berufung gegen ein Urteil des SG zulässig ist. Dabei wurde der Streitwert in § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG von bisher 500 Euro auf jetzt 750 Euro heraufgesetzt.

Für „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger, die nicht gerade wegen einer ganzen Palette an Streitpunkten klagen, kann gerade wegen des kurzen Bewilligungszeitraumes von regulär sechs Monaten hier schnell eine Rechtswidrigkeit zum Regelzustand werden. Und wenn Betroffene dann noch das Pech haben, auf ein Landessozialgericht zu stoßen, welches die gleiche Masche fährt wie das SG, dann ist der Rechtsweg in die Revision vor dem BSG versperrt, der ansonsten via Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Berufungsurteil noch offen wäre. Hier hat es eine Verschlechterung für die Betroffenen um 50 % gegeben.

§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG bestimmt, daß die Beschwerde ausgeschlossen ist „in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre“.

Einmal abgesehen davon, daß dem Begehr eines Antragstellers/einer Antragstellerin im Eilverfahren (Antrag auf einstweilige Anordnung) auch dann stattzugeben ist, wenn die Hauptsache nicht ausdrücklich erfolglos, sondern der Ausgang offen ist, so eröffnet diese Vorschrift leider all denjenigen Richterinnen und Richtern, die ohnehin gerne eine Rechtsfrage von allgemeinem Interesse an der Beschwerdewertgrenze scheitern lassen, damit eben nicht eine günstige Entscheidung in der Sache getroffen werden kann, die Möglichkeit, dem schon im Eilverfahren einen Riegel vorzuschieben, weil das Eilverfahren im Gegensatz zum Hauptsacheverfahren nicht die Nichtzulassungsbeschwerde kennt. Denn bei der Neugestaltung des Gesetzes wurde in § 145 SGG (Nichtzulassungsbeschwerde) lediglich der alte unsinnige Passus gestrichen, wonach die Nichtzulassungsbeschwerde erst bei dem SG einzulegen war, welches die Klage gerade abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen hatte.

 

Die bedeutungslosen Änderungen

Als Neuerung führt § 16 Abs. 3 SGG ein, daß ehrenamtliche Richter „aus den Kreisen der Arbeitnehmer“ auch sein kann, „wer arbeitslos ist“. Dies war aber schon vorher aus den Kreisen der Versicherten so möglich.

Generell sollte hierbei beachtet werden, daß die Besetzung mit ehrenamtlichen Richtern an deutschen Gerichten ohnehin ein Politikum ist. Zum einen bestimmen da auch die Parlamente mit, die dann Leute aufstellen, die das richtige Parteibuch und die richtige Einstellung haben, wenn etwa für die CDU eine Vorsitzende der Landfrauenvereinigung oder für die SPD ein Gewerkschaftsfunktionär aufgestellt wird. Ferner bedeutet die Einreihung auf einer Liste bei Gericht noch lange nicht, daß die betreffende Person überhaupt zum Zuge kommt.

§ 85 Abs. 4 SGG regelt, daß Widerspruchsbescheide, die ruhen, per bekannt gegebener Allgemeinverfügung entschieden werden können. Dies klingt zunächst dramatischer als es ist, aber in der Praxis betrifft dies nicht den konkreten Wider-spruchsbescheid von „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfängern, die ohnehin bis auf die Frage der Verfassungsgemäßheit der Regelleistung fast ausschließlich und zusätzlich spezifische Fragen aufwerfen (z.B. KdU), sondern gemeint sind die vielen zigtausend Widersprüche, die erhoben werden z.B. in der Rentenversicherung, wenn z.B. die Beteiligung der Rentnerinnen und Rentner an der Pflegeversicherung vom halben Beitragssatz auf den ganzen Beitragssatz erhöht wird, und nur dies Gegenstand der vielen Widersprüche ist.

Hierzu gehört auch der neue § 114a SGG, der das neue Institut der sogenannten Musterverfahren regelt, für den Fall, daß „die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme Gegenstand von mehr als 20 Verfahren an einem Gericht“ ist; die übrigen Verfahren werden dann ausgesetzt (Abs. 1). Ist dann in dem Musterverfahren entschieden worden, „kann das Gericht nach Anhörung der Beteiligten über die ausgesetzten Verfahren durch Beschluß entscheiden“, wenn der Sachverhalt geklärt ist und keine wesentlichen Besonderheiten rechtlicher oder tatsächlicher Art bestehen. Beweisanträge, über die bereits im Musterverfahren Beweis erhoben worden ist, kann das Gericht dann ablehnen, wenn dadurch keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen hervorgebracht werden und der Rechtsstreit verzögert würde. Allerdings steht den Betroffenen hierbei im Gegensatz zur grundsätzlichen Durchführung eines Musterverfahrens gegen den ablehnenden Beschluß des Gerichts „das Rechtsmittel zu, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte“ (Abs. 2).

Diese Änderung dürfte aber vorwiegend im Rentenversicherungsrecht von Bedeutung sein, wenn Massenverfahren wegen z.B. einer gleichgearteten Verfügung des Rentenversicherungsträgers anstehen. Bei „Hartz IV“, wo es selbst innerhalb einer Kommune z.B. bei den Unterkunftskosten (KdU) auf den Einzelfall ankommt, ist dies schwer vorstellbar, es sei denn eine Kommune verweigert grundsätzlich die Übernahme z.B. der tatsächlichen Kosten einer Klassenfahrt und nur dieses ist Gegenstand von mehr als 20 Verfahren.

§ 102 Abs. 2 SGG fingiert eine Klagerücknahme, ohne daß eine solche tatsächlich vom Kläger erfolgt ist: „Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.“

Diese Regelung dürfte ernsthaft „Hartz IV“-Betroffene nicht nur nicht stören, weil sie selber ja ein sachliches Interesse an einer möglichst schnellen Gerichtsentscheidung haben. Und auch verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht zu besorgen, da die Versagung des verfassungsrechtlich garantierten Rechtsweges (Art. 19 Abs. 4 GG) erst nach Aufforderung durch das Gericht unter gleichzeitigem Hinweis auf die Sanktionsmöglichkeiten erfolgt.

Realistisch ist eher der umgekehrte Fall, wo Richter Verfahren verschleppen, um, ihrem sozial-rassistischen Geiste fröhnend, für die Betroffenen positive Entscheidungen zu verzögern, die sie ansonsten, auch aufgrund höherer Rechtsprechung, zuerkennen müßten.

Hierzu paßt auch der neue § 106a SGG, der in seinem Absatz 1 bestimmt, daß dem Kläger/der Klägerin eine Frist zur Angabe von Tatsachen, die ihn/sie beschweren, gesetzt werden kann.

Problematischer ist da schon der Absatz 3, der bestimmt, daß nach Fristablauf vorgebrachte Erklärungen und Beweismittel vom Gericht zurückgewiesen werden können. Diese verfassungsrechtlich problematische Einschränkung von Verfahrensrechten wird auch wieder dadurch entschärft, daß die Betroffenen die Verspätung begründet entschuldigen können, über die Verfahrensfolgen aufgeklärt sein worden müssen und die verspätet vorgebrachten Erklärungen und Beweismittel nur zur Verfahrensverzögerung führen. Lediglich Letzteres ist dann problematisch, wenn dies durch Richterinnen oder Richter festgestellt wird, die ein Interesse daran haben, die Betroffenen reinzureißen.

Zu § 106a SGG gehört auch der neue § 157a SGG, der bestimmt, daß nicht rechtzeitig vorgebrachte Erklärungen und Beweismittel auch vom Berufungsgericht zurückgewiesen werden können (Abs. 1) bzw. ausgeschlossen bleiben, wenn sie vom SG bereits zurückgewiesen wurden (Abs. 2).

§ 136 SGG erhält einen Absatz 4, welcher bestimmt, daß es dann nicht der (schriftlichen) Entscheidungsgründe und des Tatbestandes bedarf, wenn das Urteil in dem Termin, in welchem die mündliche Verhandlung geschlossen wurde, verkündet wurde, sofern die Verfahrensbeteiligten auf Rechtsmittel verzichten.

Der § 172 SGG (Beschwerdeverfahren) wird in Absatz 2 (Ausschluß der Beschwerde) um den Aspekt des Befangenheitsantrages gegen Richter erweitert. Da auch gegen Richterinnen und Richter der Sozialgerichte das zuständige Landessozialgericht (LSG) für den Befangenheitsantrag zuständig war, mithin die eigentliche Beschwerdeinstanz, und auch in der bisherigen Praxis (cf. SGG-Kommentar Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 8. Aufl., Rdnr. 14 zu § 60) Beschwerden gegen Befangenheits-Entscheidungen nicht möglich waren, handelt es sich hier mithin lediglich um eine im Gesetz selbst verankerte Formulierung der gerichtlichen Praxis.

Im neuen Absatz 3 wird unter Punkt 2 die Beschwerde „gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe“ ausgeschlossen, „wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Prozesskostenhilfe verneint“. Durch diese Einschränkung auf, salopp gesagt, ausreichende Finanzmittel der Klägerinnen und Kläger wird eine verfassungswidrige inhaltliche Verweigerung des Rechtsweges ausgeschlossen.

Problematisch hingegen ist eine andere Regelung innerhalb dieses Paragraphen (s.o.).

 

Die interessanten Änderungen

Eine interessante Änderung enthält die SGG-Änderung 2008; der Kostenparagraph 192 wird um einen Absatz 4 erweitert: „Das Gericht kann der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Die Entscheidung ergeht durch gesonderten Beschluß.“

Offensichtlich soll mit dieser Regelung der Verweigerungshaltung vieler Optionskommunen und anderer Kommunen entgegengewirkt werden, die KdU für die Betroffenen nicht zu ermittlen. Denn trotz der Tatsache, daß in den wenigsten Fällen Mietspiegel vorliegen und trotz der einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG, Urteil vom 7. November 2006, Az.: B 7b AS 18/06 R), sind viele Kommunen untätig bei der Ermittlung der Wohnungsmarktdaten zur Bestimmung der „Angemessenheits“grenze bei den Unterkunftskosten (KdU), um auf diese Weise jahrelang Kosten zu sparen.

Ebenfalls interessant ist eine entsprechende Änderung des § 104 SGG, der einer weit verbreiteten Verfahrensverzögerung der Leistungsbehörden vorbeugt: „Soweit das Gericht die Übersendung von Verwaltungsakten anfordert, soll diese binnen eines Monats nach Eingang der Aufforderung bei dem zuständigen Verwaltungsträger erfolgen.“

Pech für diejenigen Richterinnen und Richter, die ihre eigenbetriebene Verfahrensverzögerung gerne mit verspätet zugesandten Verwaltungsakten kaschieren. Aber hier wollte der Gesetzgeber wohl einem durch die steigende Zahl von „Hartz IV“-Verfahren bedingten Anstieg an Richterstellen vorbeugen, die dann, wenn etwa bis 2010 alle wesentlichen Rechtsfragen durch das BSG geklärt sind, nicht mehr benötigt würden.

 

 

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