Herbert Masslau

Zwangsverrentung durch Unrecht

Verleugnung des Eigentumsschutzes Artikel 14 Grundgesetz

(14. Juli 2015)

 

 

Die nachfolgende kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Entscheidungen des LSG Sachsen-Anhalt und des LSG Thüringen zur Zwangsverrentung konnte nicht mehr in dem Artikel „Zwangsverrentung im SGB II“ berücksichtigt werden, weil sie erst im Monat nach der Veröffentlichung des Artikels erschienen sind. Gleichwohl habe ich von einer sonst üblichen Ergänzung meines Artikels abgesehen, weil mir der hier dargestellte Aspekt einer eigenen Würdigung wert erschien.

Die nachfolgend kritisch beleuchteten Entscheidungen des LSG Sachsen-Anhalt und LSG Thüringen zur Zwangsverrentung führen zur Untermauerung ihrer eigenen Entscheidungen als Begründung Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) an, die entweder etwas anderes regeln oder das diametrale Gegenteil enthalten.

 

Die gerichtlichen Entscheidungen

Nachfolgend geht es um die Entscheidungen

– LSG Sachsen-Anhalt, Beschluß vom 27. April 2015, Az.: L 5 AS 42/15 B ER

– LSG Sachsen-Anhalt, Beschluß vom 28. April 2015, Az.: L 4 AS 63/15 B ER

– Thüringisches LSG, Beschluß vom 8. April 2015, Az.: L 4 AS 263/15 B ER

– BVerfG, Senatsbeschluß vom 11. Januar 2011, Az.: 1 BvR 3588/08, 1 BvR 555/09

– BVerfG, Kammerbeschluß vom 8. November 2011, Az.: 1 BvR 2007/11.

Hierbei soll es um einen einzigen, aber wesentlichen Punkt gehen: Stellt die Zwangsverrentung gemäß § 12a SGB II einen Verstoß gegen den durch Art. 14 Abs. 1 GG garantierten Eigentumsschutz dar oder nicht?

Außer Zweifel steht – auch bei den deutschen Sozialgerichten –, daß angesparte Rentenbeträge Vermögen sind. Die weitere Frage wäre dann, ob dieses Vermögen, welches grundsätzlich durch Art. 14 GG geschützt ist, durch staatlichen Zwang gekürzt werden darf. Dahinter steckt die Frage, ob § 12a SGB II verfassungskonform ist. Die hier behandelten LSG-Entscheidungen haben diese Frage bejaht, indem sie die eigentliche Fragestellung durch eine falsche ersetzt und so das eigentliche Problem nicht ausgeurteilt haben.

 

Das LSG Sachsen-Anhalt urteilte in seinem Beschluß vom 27. April 2015, Az.: L 5 AS 42/15 B ER:

„§ 12a SGB II greift auch nicht in den Schutzbereich des Art. 14 GG ein. Dieses ist grundsätzlich nur dann der Fall, wenn der Bestand an individuell geschützten vermögenswerten Rechten aufgrund einer gesetzlichen oder auf einem Gesetz beruhenden Maßnahme zu einem bestimmten Zeitpunkt vermindert wird (…).

Der Anspruch auf Grundsicherungsleistungen unterfällt nicht diesem Grundrechtsschutz, weil es an dem Beruhen auf nicht unerheblichen Eigenleistungen fehlt (vgl. BVerfG zur Arbeitslosenhilfe, Beschluss vom 7. Dezember 2010, 1 BvR 2628/07, Rn. 33. Juris).

Das Anwartschaftsrecht auf eine Altersrente ist zwar eine durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte vermögenswerte Rechtsposition (BVerfG, Urteil vom 16. Juli 1985, 1 BvL 5/80 u.a., BVerfGE 69, 272, 298 m.w.N.). Die Antragstellerin hat aber als Bezieherin von Sozialleistungen die Verpflichtung, vorrangig Vermögen zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhaltes einzusetzen (vgl. § 12 SGB II). In diesem Sinne sind die Rentenanwartschaften Vermögen, welches sie durch den Rentenantrag aktivieren kann. Bei einer Anrechnung von Vermögen oder Einkommen auf Grundsicherungsleistungen hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. November 2011, 1 BvR 2007/11, Rn. 8, Juris).“ [zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]

 

Und in seinem Beschluß vom 28. April 2015, Az.: L 4 AS 63/15 B ER:

„Auch wenn das Anwartschaftsrecht auf eine Altersrente eine durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte vermögenswerte Rechtsposition ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 16. Juli 1985, Az.: 1 BvL 5/80 u.a., juris), hat die Antragstellerin als Bezieherin von Sozialleistungen die Verpflichtung, vorrangig ihr Vermögen zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts einzusetzen. Insoweit sind ihre Rentenanwartschaften Vermögenswerte, die sie durch den (vorzeitigen) Rentenantrag aktivieren kann. Das Eigentumsrecht ist jedoch nicht verletzt, wenn grundsicherungsrechtlich eine Verwertung von Vermögensgegenständen gefordert wird (…). Insoweit gebietet es das der Grundsicherung immanente Prinzip der Subsidiarität, zunächst Eigenmittel in Anspruch zu nehmen. Diese Verpflichtung gehört zu den verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Grundsätzen bei der Inanspruchnahme von steuerfinanzierten Transferleistungen, die vom BVerfG im Hinblick auf den weiten Spielraum des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen gebilligt worden sind (BVerfG, Beschluss vom 8. November 2011, Az.: 1 BvR 2007/11, juris).“ [zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]

 

In beiden Fällen geht das LSG Sachsen-Anhalt von der richtigen Annahme aus, daß es sich bei Rentenanwartschaften um durch Art. 14 GG geschützte Vermögenspositionen handelt.

Im ersten Fall behauptet das LSG Sachsen-Anhalt dann aber, die Grundsicherungsleistung nach SGB II unterliege nicht dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG und führt eine BVerfG-Entscheidung zur steuerfinanzierten alten Arbeitslosenhilfe an.

Hier wird ein falsches Pferd aufgezäumt, denn im Zusammenhang mit dem Rentenvermögen geht es nicht darum, ob die steuerfinanzierte Grundsicherung nach SGB II dem Schutz des Art. 14 GG unterliegt. Insoweit hatte das BVerfG seinerzeit zur alten steuerfinanzierten Arbeitslosenhilfe im Gegensatz zum durch Eigenleistungen (Versicherungsbeiträge) erwirtschafteten Arbeitslosengeld (jetzt Alg I) zu recht entschieden, daß kein Eingriff in das durch Art. 14 GG geschützte Eigentumsrecht vorliege.

Beide Entscheidungen des LSG Sachsen-Anhalt gehen ferner davon aus, daß Hilfebedürftige vorhandenes Vermögen zur Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit einzusetzen haben (§ 12 SGB II). – So schon die im Artikel „Zwangsverrentung im SGB II“ angeführte Entscheidung LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. Dezember 2014, Az.: L 7 AS 1775/14. –

Auch dies ist bei Bezug einer Sozialhilfeleistung nicht ernsthaft zu bestreiten. Aber auch hier wird ein falsches Pferd aufgezäumt, denn es geht nicht um die Berücksichtigung von Vermögen (außerhalb der Schongrenzen), weil die potentielle Rente nicht auf das Arbeitslosengeld II angerechnet wird, sondern erstens gemäß § 7 Abs. 4 SGB II der Bezug von Arbeitslosengeld II bei Rentenbezug qua lege ausgeschlossen ist und zweitens es hier um die Kürzung des durch Art. 14 GG geschützten Vermögens daselbst geht und nicht um dessen Anrechnung.

Hierzu wird in beiden Fällen die Entscheidung BVerfG, Beschluß vom 8. November 2011, Az.: 1 BvR 2007/11 angeführt als Bestätigung der Rechtsauffassung des LSG Sachsen-Anhalt. Aber aus dieser BVerfG-Entscheidung ist die Darstellung des LSG Sachsen-Anhalt nicht herleitbar.

 

Was BVerfG, Beschluß vom 8. November 2011, Az.: 1 BvR 2007/11 wirklich sagt:

„Eine fürsorgerische Sozialleistung wie die Grundsicherung ist nicht als Eigentum im Sinne des Art. 14 GG geschützt. Sozialrechtliche Ansprüche genießen vielmehr nur dann grundrechtlichen Eigentumsschutz, wenn es sich um vermögenswerte Rechtspositionen handelt, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts privatnützig zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und der Existenzsicherung dienen (…). So stehen etwa sozialversicherungsrechtliche Rechtspositionen in Form von Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung, soweit sie aus eigener Versicherung der Leistungsberechtigten resultieren, grundsätzlich unter dem Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG (…). Dies ist hingegen bei steuerfinanzierten Fürsorgeleistungen nicht der Fall (…). Die Verringerung dieses Sozialleistungsanspruchs verletzt die Beschwerdeführerin hier ebenso wenig in ihrem Recht aus Art. 14 Abs. 1 GG wie die Anrechnung der Verletztenrente auf derartige Ansprüche (…).“

In der BVerfG-Entscheidung ging es um die Anrechnung einer Einkommenssteuererstattung auf das Arbeitslosengeld II. Es ging mithin um die Anrechnung von Einkommen auf eine steuerfinanzierte Sozialleistung. Selbst die Betrachtung einer Steuererstattung als Vermögen, wie die Beschwerdeführerin meinte und wie in der Rechtsprechung vor 1998 gegeben, ändert nichts daran.

Diese BVerfG-Entscheidung kann aber schon deswegen nicht herangezogen werden, weil es bei der Zwangsverrentung nicht um eine Anrechnung von Einkommen bzw. Vermögen auf die Sozialleistung geht, sondern um die durch die Zwangsverrentung erwirkte Kürzung aufgebauter Vermögenspositionen. Im Gegensatz zur Anrechnung von Vermögen bleibt nämlich der Anspruchsbetrag nicht grundsätzlich erhalten und wird nicht bloß der Sozialleistungsbetrag der Grundsicherung gekürzt, sondern die Rentenleistung selbst wird gekürzt.

Dies wäre bei freiwilliger vorzeitiger Inanspruchnahme nicht zu kritisieren, weil der gekürzten Rentenleistung der frühere Ausstieg aus der Arbeitswelt als Entlastung gegenüberstünde. Hier liegt aber keine Freiwilligkeit vor, sondern die Zwangsverrentung aufgrund § 12a SGB II. Und, Menschen, die es sich leisten können, zu sagen, lieber etwas weniger Rente, dafür zwei Jahre weniger arbeiten, die stehen gar nicht im Arbeitslosengeld II-Bezug und die bekommen soviel Rente, daß sich für sie diese Rechnung dennoch lohnt. Bei „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfängern ist hinsichtlich beider Aspekte das genaue Gegenteil der Fall.

Vorallem aber kann diese BVerfG-Entscheidung nicht herangezogen werden, weil es bei der Zwangsverrentung nicht um die Frage geht, ob das Arbeitslosengeld II eine durch Art. 14 GG geschützte Rechtsposition ist, sondern weil es um die Kürzung des bereits aufgrund von Eigenleistungen erwirtschafteten Rentenanspruchs geht, also um die mit der Zwangsverrentung verbundene Kürzung von Rentenvermögen. Und hierzu sagt die genannte BVerfG-Entscheidung klipp und klar aus, daß „Ansprüche[n] aus der gesetzlichen Rentenversicherung, soweit sie aus eigener Versicherung der Leistungsberechtigten resultieren, grundsätzlich unter dem Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG“ stehen.

Da seit 2011 die SGB II-Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung abgeschafft sind, kann niemand nur aufgrund der von 2005 bis 2010 gezahlten Rentenbeiträge eine Rente generieren. Aufgrund der Voraussetzung 35-jähriger Anwartschaftszeiten für den Bezug von Rentenleistungen im Regelfall, wäre unter Einbezug der früheren Arbeitslosenhilfe (berufs)lebenslange Arbeitslosigkeit Voraussetzung für eine Rentenleistung, die ausschließlich aus steuerfinanzierten Rentenbeiträgen erbracht worden wäre. Hier liegen also allein schon aufgrund der in den Klageverfahren gegebenen Rentenanspruchshöhen in jedem Falle nicht unerhebliche Eigenleistungen vor.

 

Das LSG Thüringen urteilte in seinem Beschluß vom 8. April 2015, Az.: L 4 AS 263/15 B ER:

„Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen - insbesondere mit Blick auf Art. 14 GG - ebenfalls nicht. Das BVerfG hat bereits entschieden, dass Abschläge, die sich an der Tatsache des Eintritts in den Ruhestand vor Vollendung des Regelalters orientieren, von Verfassungswegen nicht danach unterschieden werden müssen, ob die Zurruhesetzung aus der Perspektive des Betroffenen freiwillig oder unfreiwillig erfolgt (BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 2011 - 1 BvR 3588/08 u.a.). Diese Entscheidung, die zur Frage des richtigen Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung (§ 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI) ergangen ist und somit auf einen Fall der ‚Unfreiwilligkeit aus tatsächlichen Gründen’ Bezug nimmt, ist auf den in §§ 12a, 5 Abs. 3 SGB II angelegten Fall der ‚Unfreiwilligkeit’ aus rechtlichen Gründen" übertragbar sein (…).“ [zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de – Der verquastete Sprachstil und Satzbau im letzten Satz entspricht dem Originalzitat]

Zunächst ist anzumerken, daß auch hier wieder eine BVerfG-Entscheidung herangezogen wird, die einen ganz anderen Fall behandelt: es geht um die Rechtsfrage, ob vorzeitig in Anspruch genommene Rentenleistungen der Höhe nach gekürzt werden dürfen um 0,3 % monatlich. Hier ließ das BVerfG den Einwand, Art. 14 GG sei verletzt durch diese Kürzung, nicht gelten. Konkret ging es dabei darum, daß auch für Erwerbsminderungsrenten der Kürzungsfaktor wie bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Regelaltersrente eingeführt wurde, da festgestellt wurde, daß ein Drittel aller vorzeitigen Inanspruchnahmen aus Gründen verminderter Erwerbsfähigkeit erfolgten. Auf diese Weise wurde die Rentenkasse durch Personen zwischen 60 und 63 Jahren zusätzlich belastet – im Fall der der BVerfG-Entscheidung zugrunde lag auch vor 60 –. Dem sollte ein Riegel vorgeschoben werden. [BVerfG, a.a.O., Rdnrn. 39 ff.]

Hier nun behauptet das LSG Thüringen – dem Autor sei erlaubt, die freistaatliche Gerichtsbezeichnung der der meisten Obergerichte anzupassen –, ob freiwillig vorzeitig in Rente oder vorzeitig zwangsverrentet, sei egal.

Was sagt BVerfG, Beschluß vom 11. Januar 2011, Az.: 1 BvR 3588/08 u.a. aber wirklich:

„Hierbei hat der Gesetzgeber, zumal wenn er nicht nur das Eigentum für die Zukunft ausgestaltet, sondern - wie hier - in bestehende Eigentumspositionen eingreift, die grundsätzliche Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis zu achten und darf sie nicht unverhältnismäßig einschränken (…). Wenn in bestehende Anwartschaften eingegriffen wird, ist allerdings zu berücksichtigen, dass in ihnen von vornherein die Möglichkeit von Änderungen angelegt ist (…). Eine Unabänderlichkeit der bei ihrer Begründung bestehenden Bedingungen widerspräche dem Rentenversicherungsverhältnis, das im Unterschied zu einem privaten Versicherungsverhältnis von Anfang an nicht allein auf dem Versicherungsprinzip, sondern auch auf dem Gedanken des sozialen Ausgleichs beruht (…).“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 36]

„Allerdings liefe der grundrechtliche Eigentumsschutz von Rentenanwartschaften leer, wenn jede Maßnahme zur Verbesserung der Finanzierungssituation der gesetzlichen Rentenversicherung ohne weiteres durch dieses Ziel gerechtfertigt werden könnte. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG erlaubt es nicht, durch ihn geschützte Rentenanwartschaften allein auf der Grundlage eines allgemeinen Wunsches einer Sanierung der Staatsfinanzen zu kürzen. Daher sind der Absenkung von Renten ungeachtet des legitimen Ziels, die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleisten, verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, etwa wenn dieses Ziel zum Beispiel auch durch sprunghafte und willkürliche Veränderungen der Rentenhöhe erreicht werden sollte (…).“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 42 – Hervorh. H.M.]

„Gesetzliche Änderungen, die die Höhe der Rentenanwartschaft zwecks Verbesserung der Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung berühren, sind dann grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig, wenn die Veränderung ihrerseits an einen Umstand anknüpft, der für die Finanzsituation kausal ist. So verhält es sich hier, weil mit der Absenkung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten auf die Inanspruchnahme der Rente vor Eintritt des Regelalters für die Altersrente und damit auf eine Verlängerung der Rentenbezugszeit reagiert wird. Den Vorteil der verlängerten Rentenbezugszeit durch eine Absenkung des monatlichen Zahlbetrags zumindest teilweise zu kompensieren, ist eine auch unter versicherungsmathematischen Gesichtspunkten nachvollziehbare und damit sachlich gerechtfertigte Maßnahme (…).“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 43 – Hervorh. H.M.]

Hieraus wird klar deutlich, daß der der Rentenkasse durch die vorzeitige – freiwillige ! – Inanspruchnahme der Rentenleistung entstehende finanzielle Schaden durch den Minderungsfaktor von 0,3 % p.M. ausgeglichen werden soll, die zusätzliche Belastung der Rentenkasse durch die längere Rentenbezugszeit also kompensiert werden soll.

Es geht also mitnichten um für die Rentenkasse (SGB VI) kausale Zusammenhänge. Die Zwangsverrentung im Rahmen des SGB II ist keine SGB VI-interne Angelegenheit.

Vorallem aber wird kein freiwilliger Antrag auf Frühverrentung gestellt, womit die Zwangsverrentung unverhältnismäßig in die durch Art. 14 GG geschützte Rechtsposition eingreift. Es handelt sich mithin um eine „sprunghafte und willkürliche Veränderung[en] der Rentenhöhe“, was das BVerfG untersagt.

Damit sagt die vom LSG Thüringen zur Begründung seiner Rechtsargumentation angeführte BVerfG-Entscheidung das genaue Gegenteil dessen aus.

 

Fazit:

Es geht also nicht um die steuerfinanzierte Sozialleistung im Zusammenhang mit dem Eigentumsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG. Sondern es geht um eine Reduzierung eigentumsrechtlich durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützter, durch private Leistungen aufgebauter Versicherungsleistungen. Sofern eigentumsrechtlich geschützte Leistungen zwar auf SGB II-Leistungen angerechnet werden in voller Höhe, werden diese anderen Leistungen selber nicht reduziert, was ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG wäre, sondern sie werden in voller Höhe angerechnet, so daß die steuerfinanzierte Sozialleistung reduziert wird. Bei der Zwangsverrentung wird die eingetumsrechtlich durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte vermögensgleiche Leistung, nämlich die Rente, selbst reduziert; dies ergibt sich selbstredend schon aus den Minderungsbeträgen, die gemaß § 77 Abs. 2 Nr. 2 lit. a) SGB VI dafür vorgesehen sind. Während also etwa eine Steuererstattung oder das Kindergeld als solche nicht gekürzt werden, sondern „nur“ in voller Höhe angerechnet werden auf die SGB II-Leistung, wird bei der Zwangsverrentung die Rentenleistung daselbst gekürzt. Dies kann auch nicht mit dem Argument umgangen werden, diese Kürzung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dies trifft nur auf denjenigen Fall zu, wo jemand freiwillig (!) vorzeitig in Rente gehen möchte, z.B. motiviert durch eine ausreichend hohe Rente trotz Abzügen und die Eintauschung von zwei Jahren weniger im Arbeitsverhältnis. Bei der Zwangsverrentung ist aber gerade diese Freiwilligkeit nicht gegeben und auch nicht der positive Effekt des vorgezogenen Nichterwerbs durch Arbeit. Hier verbleibt es ausschließlich bei einer aufgewzungenen Kürzung der Rentenleistung. Und im Falle von Familien gilt, daß die eigenen Kinder, die bei der Rente der Eltern nicht ausreichend Berücksichtigung finden, etwa bei der Anrechnung von Erziehungszeiten, in den zwei Jahren (später vier Jahren) vor dem regulären Renteneintrittsalter der Eltern gemäß § 94 SGB XII auch noch zum Unterhalt der Eltern herangezogen werden.

Daß die genannten Landessozialgerichte zu Lügen greifen, um den Grundrechtsschutz gemäß Art. 14 GG auszuhebeln, indem sie BVerfG-Entscheidungen anführen, die inhaltlich nicht anwendbar sind, oder sogar inhaltlich in ihr Gegenteil verwandeln, ist schlicht eine Frechheit.

Es sollte also kein Betroffener, keine Betroffene sozialgerichtliche Entscheidungen akzeptieren, die vorgeben, Art. 14 GG auf die beschriebene Art und Weise aushebeln zu können. Auch nicht, wenn sie sich wie das LSG Niedersachsen-Bremen [Beschluß vom 28. Mai 2015, Az.: L 15 AS 85/15 B ER] lediglich auf die hier genannten LSG-Entscheidungen beziehen, ohne sich selber, wie der Begründugstext vermuten läßt, mit den dort genannten BVerfG-Entscheidungen auseinandergesetzt zu haben.

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß dem Bundessozialgericht zwei Revisionen zum Thema Zwangsverrentung vorliegen: BSG, B 14 AS 1/15 R und B 14 AS 3/15 R. Es ist daher sehr fraglich, ob angesichts dessen überhaupt ablehnende Eilrechtsentscheidungen durch untere Instanzen getroffen werden dürfen, bevor nicht eine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt. Denn, ist die vorzeitige Rente ersteinmal beantragt und bewilligt, kann der Antrag nach dem Stichtag der frühesten Inanspruchnahme nicht mehr zurückgenommen werden und es kommt zu einem irreversiblen Nachteil auf Dauer im Sinne von § 86b SGG.

 

 

 

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